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Interview

Nicht kirre machen lassen!

Viele pädagogische Fach- und Lehrkräfte sind es gewohnt mit Kindern gelassen und kompetent umzugehen. Wer so auch gegenüber Eltern auftritt, kann damit gesellschaftlich etwas bewirken, sagt Judith Strohm von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung.

Zwei Erzieher sitzen mit einer bunten Kindergruppe auf dem Boden
© Stiftung Kinder forschen
Viele Pädagoginnen und Pädagogen haben bereits Erfahrungen im Umgang mit heterogenen Gruppen

Sie sagen: Pädagogische Fach- und Lehrkräfte können eine wichtige Rolle dabei spielen, den Diskurs rund um Flucht und Migration in Deutschland zu entdramatisieren. Warum?

Pädagogische Fachkräfte arbeiten nicht nur mit Kindern und Jugendlichen, sondern immer auch mit Eltern und Familien. Zudem ist eine pädagogische Einrichtung – ob Kita oder Schule – keine Insel. Sie ist sowohl mit Behörden als auch mit vielen kooperierenden Einrichtungen im Sozialraum eng verbunden. Die Haltung der pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte gegenüber Kindern, Jugendlichen und Familien mit Fluchterfahrung, der professionelle Umgang mit dem Thema Vielfalt strahlt damit auch auf andere Familien, mit denen die Einrichtung arbeitet, und in den Sozialraum aus.

Was ist der erste Schritt?

Porträt von Judith Strohm
© privat
Judith Strohm

Ich konnte beobachten, dass es einen Unterschied machte, ob sich der Austausch mit pädagogischen Fachkräften um "junge Flüchtlinge" oder "geflüchtete Kinder" drehte. "Flüchtling" ist ein abstrakter Begriff und im Plural werden "Flüchtlinge" zu einer nicht greifbaren Masse. Ein "Flüchtling" ist zudem eine Person, mit der mich erst einmal nichts verbindet, die fundamental andere Lebenserfahrungen hat. Das verunsichert. Das Sprechen über "geflüchtete Kinder und Jugendliche" oder "Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung" ist völlig anders. Pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte fokussieren den Blick wieder auf ihre primäre Zielgruppe: Kinder und Jugendliche. Dafür sind sie ausgebildet und verfügen über ein umfangreiches pädagogisches Handwerkszeug, in dessen Zentrum die individuelle Förderung steht. In einer solchen Perspektive ist die Fluchterfahrung eine überaus prägende Erfahrung des noch kurzen Lebens, aber mit der Zeit wird sie eine Erfahrung von vielen sein.

Wenn pädagogische Fach- und Lehrkräfte Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung in erster Linie als Kinder und Jugendliche wahrnehmen, ist aus meiner Sicht schon viel gewonnen. Denn tatsächlich wünschen sich diese Kinder nichts mehr als Normalität. Sie wollen Kinder und Jugendliche sein und nicht lebenslang das Etikett "Flüchtling" mit sich tragen.

Das gilt sicher auch für die Zusammenarbeit mit Eltern.

Natürlich. Vor einigen Jahren leitete ich einen Workshop mit Kita-Mitarbeitenden genau dazu. Die Teilnehmenden nahmen an, sie hätten eine gleichartige Vorstellung von Familie und Erziehungsvorstellungen und würden sich darin als Gruppe von bestimmten Eltern unterscheiden. Ich bat die Teilnehmenden, schriftlich und individuell einige Fragen zu beantworten: Wer gehört zu Ihrer Familie? Welche Sprache wird in Ihrer Familie gesprochen? Welche Feste oder Rituale sind in Ihrer Familie wichtig? Wie sieht ein "Tag mit meiner Familie" für Sie aus? Was verbinden Sie in Ihrer Familie mit dem Thema "Vielfalt"? Wie geht Ihre Familie mit dem Thema Tod um?

Im Anschluss tauschten wir uns aus. Das wechselseitige Erstaunen war sehr groß, als eine Teilnehmerin erklärte, dass ihr Hund ein gleichberechtigtes Familienmitglied sei. Eine andere berichtete von dem babylonischen Sprachgewirr am Essenstisch, eine dritte von den anfänglichen Anfeindungen der Nachbarschaft gegenüber ihrer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Eine vierte berichtete vom Weihnachtsfest der russisch-orthodoxen Kirche.

Auch unter Eltern mit Fluchtgeschichte gibt es viele Vorstellungen von Erziehung und Elternschaft.

Also hatte die vermeintlich homogene Gruppe eine ziemliche Fülle an Familienkonzepten und Erfahrungen?

Es war ein Aha-Moment. Wenn wir davon ausgehen, dass es genauso die Eltern mit Fluchtgeschichte nicht gibt, sondern dass es auch unter diesen Eltern vielerlei Vorstellungen von Erziehung und Elternschaft gibt, sind die pädagogischen Fachkräfte dank ihrer bisherigen Erfahrungen mit Vielfalt bereits gut vorbereitet. Ein wichtiger Schritt ist es, anzuerkennen, dass Eltern mit Fluchterfahrung für ihre Kinder nur das Beste wollen. Das soll nicht heißen, dass sie auch immer schon das Beste tun. Diese Eltern brauchen Orientierung im und Informationen zum deutschen Kita- und Schulsystem – genauso wie wir diese Informationen in einem anderen Land bräuchten. Die Annahme der guten Absichten und die Akzeptanz von Fluchterfahrung als einer weiteren Dimension von Vielfalt in dem sowieso schon vielfältigen Kanon der Familienbilder kann helfen, im weiteren Kreis der Eltern bzw. des Sozialraums Verständnis und Unterstützung für die Neuzugewanderten zu bewirken.

Was hilft, um diese Haltung zu bewahren?

Eine Gruppe von Frauen sitzt um einen Tisch herum, mit Dokumenten vor sich
© Stiftung Kinder forschen
Teambesprechungen können dazu genutzt werden, Erfahrungen auszutauschen

Pädagogische Fach- und Lehrkräfte sollten Teambesprechungen und pädagogische Tage nutzen, um sich ihrer vorhandenen Stärken und Erfahrungen im Umgang mit Vielfalt bewusst zu werden. Diese sind nämlich seit langem vorhanden und werden nicht erst mit der Ankunft geflüchteter Familien gefordert.

Mir geht es keinesfalls darum, den Mangel an Personal und anderen Ressourcen, wie er vielerorts herrscht, schönzureden. Integration und individuelle Förderung brauchen eine gute Ausstattung. Zugleich sind pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte aufgrund ihrer Ausbildung sowie aufgrund ihrer hohen Fortbildungsbereitschaft und großen Selbstreflexion ihres beruflichen Handelns sehr gut auf die Arbeit mit geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Familien vorbereitet. Es ist wünschenswert, dass auch in Bildungseinrichtungen eine Expertise zu migrationsspezifischen Themen aufgebaut wird, zum Beispiel zum deutschen Asylsystem oder der Lebenssituation von geflüchteten Familien inklusive der psychosozialen Folgen der Flucht.

Fach- und Lehrkräfte können souverän, gelassen und kompetent agieren.

Auf der Basis ihres pädagogischen Handwerkszeugs und spezifischer Qualifizierungen können pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte souverän, gelassen und kompetent agieren und müssen sich nicht kirre machen lassen von Stimmen, die den Zuzug von Geflüchteten zum großen gesellschaftlichen Drama aufbauschen wollen. Neben Veranstaltungen, die immer die Chance zum persönlichen Erfahrungsaustausch bieten, hält das Internet inzwischen viel hilfreiches Material bereit.

Welche Weichen werden in diesem Bereich in der frühkindlichen Begleitung gestellt? Was kann das für die Zukunft Deutschlands bedeuten?

Deutschland ist schon sehr lange ein Einwanderungsland und wird es bleiben. Familien aus anderen EU-Ländern kamen zu uns und werden es weiterhin tun, ebenso Familien, die hier Schutz suchen vor Krieg und Verfolgung. Eine der zentralen gesellschaftspolitischen Zukunftsfragen lautet: Wie wollen wir in dieser vielfältigen Gesellschaft zusammenleben? Ich möchte die Zukunft Deutschlands nicht auf die Schultern von Pädagoginnen und Pädagogen abwälzen. Zugleich können Kitas und Schulen im Kleinen erste Antworten auf diese Frage entwickeln, indem sie in der Vielfalt das Verbindende suchen und nicht das Trennende. Dabei gilt für alle Kinder und Jugendlichen: Sie sind in erster Linie genau das – Kinder und Jugendliche. Sie wollen Sicherheit, wollen die Welt entdecken, wollen lernen und Freundschaften schließen. Sich dies immer wieder bewusst zu machen und im Alltag zu leben ist eine wichtige, auch eine gesellschaftliche Aufgabe.

Judith Strohm

Judith Strohm, Diplom-Politologin, arbeitet seit 2007 bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Seit 2015 leitet sie das Bundesprogramm „Willkommen bei Freunden – Bündnisse für junge Flüchtlinge“.