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Interview

„Das Gehirn hat Platz für viele Sprachen“

Wie wird weltweit die Mehrsprachigkeit gelebt? Wie ist sie im deutschen (Kita-)Alltag angekommen? Was können pädagogische Fachkräfte tun, um mehrsprachig aufwachsende Kinder zu fördern? Zu Erwartungshaltungen, der Identitätsentwicklung und der Sprache als Anker - haben wir mit der Erziehungswissenschaftlerin Dr. Janne Braband von der Universität Hamburg gesprochen.

© Helen Schwarze /Stiftung Kinder forschen

Wie lernen Kinder Sprachen?

Die Erforschung von Spracherwerb hat eine recht kurze Geschichte. Als Erziehungswissenschaftlerin folge ich dem funktional-pragmatischen Ansatz aus der Soziolinguistik. Dieser geht davon aus, dass sich Kinder in dem Maße Sprache aneignen, wie es für ihre sozialen Interaktionen nötig ist. Das passt gut zu einem translingualen Verständnis vom mehrsprachigen Aufwachsen, welches besagt, dass das Kind in ein gesamtsprachliches Repertoire hineinwächst. Insbesondere in der Frühpädagogik ist es wichtig, die Fähigkeiten und den Stand in allen Sprachen des Kindes zu betrachten. Diese Sichtweise vermeidet eine monolinguale Normalvorstellung, die Mehrsprachigkeit als abweichend oder problematisch sieht und z.B. von einer Konkurrenz zwischen den Sprachen ausgeht. Mehrere Sprachen zu sprechen ist kein Sonderfall, und Mehrsprachigkeit ist als Normalität aufzufassen.

Wie ist denn die Normalität in Bezug auf Mehrsprachigkeit global zu sehen und wie ist die Lage in Deutschland?

Global gesehen überwiegt die Zahl der Staaten, in denen mehrere Sprachen gesprochen werden. Das monolinguale Normalverständnis ist eher Deutschland-spezifisch. Der historische Grund hierfür liegt u.a. in der Gründung des deutschen Reiches am Ende des 19. Jahrhunderts, als aus zahlreichen deutschen Staaten und Fürstentümern der moderne Nationalstaat entstand. Dabei wurde, auch im Rahmen der schulischen Bildung, auf eine gemeinsame deutsche Sprache gesetzt. Die Sprache wurde quasi zu einem Garanten für Zusammenhalt und Stabilität. Das sollte mehr hinterfragt und diskutiert werden. Deutschland hat sich spät genug dazu bekannt, ein Einwanderungsland zu sein. Es hat sich durch Migration stark verändert und sollte eigentlich mit seiner Vielfalt in einer gewissen Normalität angekommen sein. Dazu gehört auch die Mehrsprachigkeit. Bei uns in Hamburg wird bei der Schuleingangsuntersuchung mit 4,5-jährigen Kitakindern erhoben, wie viele Sprachen sie sprechen. Um die 50% der Kinder wachsen mehrsprachig auf.

Wie können die pädagogischen Fachkräfte in den Kindergärten am besten die mehrsprachig aufwachsenden Kinder fördern?

Es ist wesentlich, sich intensiv mit den Eltern darüber auszutauschen, welche Sprachen die Kinder mitbringen und wie gut sie diese sprechen. Dann kann man den Kindern ein paar Schritte in ihrer Sprache entgegenkommen. Sich wertschätzend zeigen, indem man selbst ein paar Wörter lernt und diese in den Kitaalltag einbindet, Kooperationen mit Eltern pflegt, die beispielsweise Bücher in ihren Sprachen vorlesen. Vor allem aber finde ich es in der Elementarpädagogik wichtig, dass man sich ganz selbstbewusst gegen eine monolinguale Förderlogik aus dem schulischen Bereich abgrenzt. Man sollte nicht nur schulreife Deutschkenntnisse fördern, sondern die Kinder bei der Entfaltung ihres gesamtsprachlichen Repertoires unterstützen. Wichtig ist auch, im Team und der Einrichtung zu hinterfragen: Was ist unser Verständnis von Normalität in Bezug auf Sprachen? Stehen wir auch unter dem Druck, die Kinder mit schulreifen Deutschkenntnissen abzuliefern? Wie können wir uns dagegen wappnen? Ich möchte die pädagogischen Fachkräfte ermutigen, sich trotz aller widrigen Umstände und Hürden in ihrem Beruf, diesen Raum für Reflexion zu nehmen. Viele Kitas arbeiten da bereits sehr fortschrittlich.

Gibt es auch Nachteile in Bezug auf Mehrsprachigkeit? Es werden beispielsweise Einwände gebracht, dass Kinder überfordert sind oder keine Sprache richtig beherrschen?

Es gibt keine Nachteile, die aus der Mehrsprachigkeit an sich entstehen. Nachteile entstehen aus einem defizitorientierten Blick auf mehrsprachig aufwachsende Kinder und aus einer monolingualen Förderlogik. Sie werden durch Zuschreibungen und Vorurteilen verursacht. Es gibt diesen wunderbaren Satz von der Psychologin und Sprachwissenschaftlerin Gundula List: „Das Gehirn hat Platz für viele Sprachen“. Überforderung entsteht nicht aus dem gleichzeitigen Erwerb mehrerer Sprachen, sondern aus einer gewissen Erwartungshaltung an mehrsprachig aufwachsende Kinder, dass sie alle der Sprachen gleich gut und sehr gut beherrschen müssten. Das ist gar nicht möglich und auch nicht nötig. Es passiert häufig, dass Kinder die neu in eine Kita kommen, erst mal gar nicht sprechen und überfordert wirken. Es ist eine Phase des Zuhörens und des Staunens, der Verängstigung oder Verunsicherung. Das ist ein Signal, um genau zu schauen: Kommen wir dem Kind weit genug entgegen? Was können wir noch tun? Das Alter von 3 bis 4 Jahren ist für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung sehr wichtig. Der Spracherwerb in den frühen Jahren ist eng mit der Identitätsbildung verknüpft.

Ihre Dissertation widmet sich u.a. dem Zusammenhang von Sprach- und Identitätsentwicklung, welche Erkenntnisse haben Sie gewinnen können?

Meine Studie untersucht die Perspektive der Eltern auf das mehrsprachige Aufwachsen ihrer Kinder. Eine zentrale Erkenntnis ist, wie wichtig den Eltern die nichtdeutsche Familiensprache, aber auch die Mehrsprachigkeit an sich für die Identitätsbildung der Kinder ist. Die Kinder sollen sich in den verschiedenen Sprachen verständigen können, auch um diese als Mittel der Selbstpositionierung nutzen zu können. So kann man sich gegen die Zuschreibungen wehren und gegen das Schubladendenken. Die befragten Eltern haben dabei interessanterweise viele maritime Begriffe benutzt, die Sprache als Anker, Hafen oder Leuchtturm. Die Sprache soll den Kindern als Anker dienen, um ihre Identität selbstbewusst entwickeln und mehrfachzugehörig sein zu können. Sie haben sich keine großen Sorgen um den Deutscherwerb der Kinder gemacht, vielmehr hatten sie Mühe, die nichtdeutsche Familiensprache zu erhalten. Sobald die Kinder in die Kita kommen, sind sie eher bereit, diese andere Sprache aufzugeben. Die Familien unternehmen daher sehr viel, um ihre Sprachen zu erhalten. Doch am allerwichtigsten ist den Eltern, dass ihre Kinder gut in der Kita ankommen. Eine Mutter meinte dazu: Hauptsache sie fühlen sich in der Kita wohl und sicher.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

© Privat

Janne Braband ist Diplompädagogin und promovierte über Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit. Sie hält Vorträge zu mehrsprachigem Aufwachsen und führt Fortbildungen mit pädagogischen Fachkräften durch, außerdem lehrt sie seit vielen Jahren in den Studiengängen Bildungs- und Erziehungswissenschaft, Lehramt und Kindheitspädagogik, u.a. zu den Themen mehrsprachiges Aufwachsen, Bildung in der Migrationsgesellschaft und diversitätsgerechtes professionelles Handeln. Zurzeit arbeitet Janne Braband als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg in einem Forschungsprojekt über religiös codierte Differenzkonstruktionen im Religionsunterricht in der Grundschule.

Weiterführende Informationen

Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita: Braband, Janne (2022): "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt" – oder ist es die Welt, die meiner Sprache Grenzen setzt? In: Fachstelle Kinderwelten/ISTA & Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg (SFBB): Wir gehören dazu! Pädagogisches Begleitmaterial zum Kinderbuch Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim.

Ein mehrsprachiges Kinderbuch für den Einsatz in der Kita: Cool Kids & Hoa Mai Trần (2020): Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim. Berlin: Viel & Mehr.

Die im Interview erwähnte Studie über Mehrsprachigkeit aus Sicht von Eltern und Kitafachkräften: Braband, Janne (2019): Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik. Subjektive Theorien von Eltern und Kitafachkräften vor dem Hintergrund migrationsgesellschaftlicher Ordnungen. Bielefeld: transcript Verlag.

Zum Einbezug von Mehrsprachigkeit in den Kitaalltag, Fachinfos und praktische Anregungen: Chilla, Solveig; Niebuhr-Siebert, Sandra (2017): Mehrsprachigkeit in der KiTa. Grundlagen – Konzepte – Bildung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Zu Thema Translanguaging für Kitafachkräfte: Panagiotopoulou, Argyro (2018): Inklusion und Mehrsprachigkeit: Translanguaging in Kitas und Schulen. In: ZMI Magazin 12/2018, 11–13.