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Interview

Mehrsprachigkeit macht auch für MINT-Bildung stark

Mehrsprachig aufwachsende Kinder entwickeln Sprachkompetenzen, das steht fest. Doch dass sie dadurch auch kognitive Fähigkeiten entfalten, die sie für die MINT-Fächer stark machen, das ist eine recht neue Erkenntnis. Wie kann das Potential der Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Bildung genutzt werden? Welche Ergebnisse zeigen wissenschaftliche Studien? Mehrsprachigkeit ist der unterschätzte Vorteil in der MINT-Bildung, sagt Professor Heiner Böttger im Interview.

© Christoph Wehrer / Stiftung Kinder forschen

Welche Vorteile bringt das mehrsprachige Aufwachsen mit sich? Welche Herausforderungen oder Schwierigkeiten gibt es?

Das Aufwachsen mit zwei Sprachen ist ein überlegenes Konzept. Es bietet gegenüber einsprachigem Aufwachsen vor allem verbesserte kognitive Fähigkeiten, die sich z.B. in Leistungsvorteilen im Fach Mathematik zeigen. Dazu kommen besser entwickelte strategische Kompetenzen, so beim schnellen Hin- und Herspringen zwischen den Sprachen. Außerdem entsteht ein deutlich leichterer Zugang zu weiteren Sprachen. Dem mehrsprachigen Aufwachsen stehen eigentlich nur unnötige, hausgemachte Probleme auf bildungspolitischer, schulorganisatorischer und unterrichtlicher Ebene entgegen.

Wie könnte oder sollte dieses Potential der Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Bildung genutzt werden?

Es muss genutzt werden, um nicht verschwendet zu werden. Das bedeutet, mehrsprachige Kinder müssen früh alle erworbenen Sprachen entwickeln und mit ihnen ausreichend kommunizieren können. Monolingual aufwachsende Kinder brauchen einen umfassenden Zugang zu einer zweiten Sprache, die sie möglichst natürlich erwerben können. Dazu muss das Angebot zwei- und mehrsprachiger Kitas und Grundschule flächendeckend ausgebaut werden.

Welchen Stellenwert sollte die Muttersprache der Kinder - auch wenn es eine andere als Deutsch ist - in der frühkindlichen Bildung haben?

Jede Mutter- oder Erstsprache – auch wenn es deren zwei sind - muss als Referenzsprache früh vollumfänglich erworben werden, auch schriftlich. Die separate Förderung des Schriftbildes, die Alphabetisierung, ist deshalb nötig, weil Lesen und Schreiben nicht, wie Sprechen bzw. Hören und Verstehen intuitiv erworben werden können. Die Kinder sind dazu ab etwa drei Jahren in der Lage, wenn ihre bewusste Sprachverwendung beginnt. Vor allem muss es aber mündlich zu Hause geschehen, flankiert durch gezielte Schreib-Förderstunden in den Kitas und Grundschulen. Die Umgebungs- und Schulsprache Deutsch ist omnipräsent und damit völlig ausreichend repräsentiert. Sie muss deshalb nicht „auf Kraft“ bzw. angeordnet in nicht-deutschsprachigen Familien gesprochen werden.

Sie haben das Projekt “Lernen in zwei Sprachen - Bilinguale Grundschule Bayern” wissenschaftlich begleitet, wo an ausgewählten Grundschulen in Bayern ein Teil des Unterrichts zweisprachig abgehalten wurde. Was hat es in Bezug auf die von Kindern entwickelten (kognitiven) Fähigkeiten gezeigt?

Die Verwendung von zwei Sprachen führte nicht nur zu einem vergleichsweise höheren Sprachbewusstheit bei den 900 Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Englisch und Deutsch. Durch diese höheren sprachlichen Anforderungen entwickelten sich zudem kognitive Kompetenzen wie Regelbildung, Entscheidungen und Planungen schneller und nachhaltiger.

Eine Studie aus dem Jahr 2016 hat aufgezeigt, dass mehrsprachige Kinder bei Mathematikaufgaben trotz schwächerer Sprachkenntnisse einen Vorteil gegenüber ihren einsprachigen Mitschülern hatten. Konnte dies auch in Ihrem Projekt bestätigt werden?

Die Ergebnisse der standardisierten deutschlandweiten DEMAT-Tests in Mathematik ergaben genau diese Vorteile. Sie sind wegen des eben schon erwähnten kognitiv höheren Trainingseffekts logisch. Im Projekt waren wir jedoch überrascht, dass insbesondere die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund derart gut abschnitten. Überrascht deshalb, weil wir zwar theoretisch, also über viele veröffentlichte, einzelne Forschungsbefunde, auf diese Tatsache vorbereitet waren – das aber dann über eigene Daten so deutlich zu sehen, ist schon beeindruckend.

Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund, die in der Regel auch mehrsprachig aufwachsen, schneiden in den MINT-Leistungen seit Jahren schlechter ab als ihre Mitschüler und Mitschülerinnen. Was müsste sich also im Bildungssystem ändern, um die Potentiale besser zu nutzen?

Diese Kinder lernen alle Fächer in der Fremdsprache Deutsch. Da sind entsprechende Ergebnisse nicht wirklich überraschend. Ihre eigentlich vorhandenen sprachlichen Potenziale werden dann genützt, wenn gleichzeitig die Muttersprachen intensiv gefördert werden und eine zweite Unterrichtssprache dazukommt. Das kann die eigentliche Muttersprache oder eben auch eine moderne Fremdsprache wie Englisch sein.

Sehen Sie die Mehrsprachigkeit also als einen Lernvorteil oder als einen Risikofaktor?

Mehrsprachigkeit, das wurde sicher deutlich, bildet einen erheblichen Vorteil beim Erwerbs- und Lernprozess vieler Inhalte. Zum Risiko wird mehrsprachiges Aufwachsen dann, wenn es dilettantisch organisiert wird. Die Pflege der Muttersprache und ihrer Kultur zu Hause ist der eine Schlüssel zur kompetenten Mehrsprachigkeit, das zweisprachige Aufwachsen in Kita und Grundschule der andere.

Es gibt Forderungen, dass die durch den Migrationshintergrund hervorgerufenen Unterschiede bereits im Vorschulbereich ausgeglichen werden sollten. Würden Sie diese unterstreichen? Und wie sollten diese konkret aussehen?

Auf die sprachlichen Kompetenzen bezogen – ja, eindeutig. Und das so früh wie möglich, am besten eben in der Kita. Die Information der Eltern, die intensive muttersprachliche Kommunikation zu Hause sowie die gezielte institutionalisierte Förderung der Muttersprachen, einschließlich Deutsch, bilden den Umsetzungsrahmen. Im Übrigen gilt das auch für monolingual deutsch aufwachsende Kinder, denen unbedingt der Zugang zu einer zweiten Sprache ermöglicht werden muss. Mittlerweile ist erwiesen: Tun wir Bildungsverantwortliche das alles nicht, enthalten wir unseren Kindern und Jugendlichen ganz erhebliche Entwicklungspotenziale einfach vor. Das wäre fahrlässig und unverantwortlich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

© Privat

Heiner Böttger ist Professor für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich aktuell auf (fremd-)sprachenrelevante, beweisbasierte und ganzheitliche Lehr-/Lernprozesse in spracherwerbssensiblen Entwicklungsphasen. Er untersucht, wie Kinder und Jugendliche kommunikative Kompetenzen erwerben, welche Strategien sie dabei verwenden, welche neuronalen Prozesse im Gehirn der sprachlichen Entwicklung zugrunde liegen und welche Gegebenheiten für den Erwerb von Sprachen notwendig sind. Er ist ein Verfechter der selbstverständlichen Selbstverpflichtung von Wissenschaftlern, die Ergebnisse ihrer Studien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.