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Interview

Offenheit und Transparenz sind bei geflüchteten Kindern ein guter Anfang

Kinder mit Fluchterfahrungen brauchen all das, was alle Kinder brauchen: Zuwendung, Verständnis, eine verlässliche Basis. Viele dieser Kinder bringen aber auch Erfahrungen mit, die außerhalb des Erfahrungshorizonts ihrer Erzieherinnen und Erzieher liegen. Astrid Leska, Fortbildnerin und Supervisorin aus Dülmen, betont, wie wichtig eine offene pädagogische Grundhaltung ist.

Was brauchen Kinder mit Fluchterfahrungen?

Portrait von Astrid Leska
Astrid Leska ©privat

Astrid Leska: "Dass da jemand ist, der genau diese Frage stellt: 'Was brauchst du?' Und der offen ist für das, was das Kind ihm dann sagt oder zeigt. Das zu verstehen ist nicht immer ganz einfach, aber es lohnt sich, genau hinzuschauen oder hinzuhören. Es ist wichtig, die kleinen, sehr feinen, teils non-verbalen Signale der Kinder zu sehen und diese aufzugreifen."

Brauchen diese Kinder denn etwas anderes als diejenigen, die in Deutschland geboren wurden?

A. L.: "Kinder mit Fluchterfahrung benötigen zunächst einen ganz sicheren Boden, darin unterscheidet sie nichts von anderen Kindern. Sie benötigen meist eine ganz sensible Eingewöhnungszeit und das ist leider nicht immer möglich: Ihre Eltern sind häufig selbst sehr belastet und noch nicht im Hier und Jetzt angekommen. Die eigenen, oft belastenden Erfahrungen, konnten und wurden noch nicht verarbeitet. Sie haben zudem oft keine Zeit, da sie Deutschkurse absolvieren und sich selbst erst einmal orientieren müssen.

Dazu gehört auch, sich im deutschen Bildungssystem zurecht zu finden: Die meisten der Eltern, die flüchten mussten, kennen keine Kita. Da ist die Verunsicherung, etwas falsch zu machen, groß. Zugleich können sie ihre Kinder nur schwer auf die Kita vorbereiten: Was passiert da? Was erwartet die Kinder? Was wird von den Kindern erwartet? Darauf sollten sich die Erzieherinnen und Erzieher einstellen; sie müssen die Eltern einbinden und sie mitnehmen, damit die Kinder gut eingewöhnt werden."

Was wäre der nächste Schritt?

A. L.: "Der hat ganz viel mit der pädagogischen und persönlichen Haltung zu tun: Zunächst muss ich eine Beziehung zu dem Kind aufbauen und auch darin unterscheidet sich nichts in meinem Vorgehen – ob ich nun eine Beziehung zu einem Kind aufbaue, das hier geboren wurde, oder zu einem, das aus einem ganz anderen kulturellen Gesellschaftskreis kommt.

Der Unterschied besteht darin, dass ich als Pädagogin oder Pädagoge mitunter einige Verhaltensweisen oder Reaktionen nicht sofort einordnen kann, um Rückschlüsse auf die Bedürfnisse des Kindes ziehen zu können, da ich die Lebensumstände, die kulturellen Hintergründe oder die Geschichte des Kindes und der Familie nicht kenne."

Haben Sie dafür ein Beispiel?

A. L.: "Ich habe eine Kita-Gruppe per Video-Analyse begleitet. In der Gruppe war ein Kind mit Fluchterfahrung. Das Kind war gut angekommen in der Kita, lachte viel, spielte, integrierte sich. Doch es gab wiederholt Situationen, in denen das Kind sehr herausforderndes Verhalten zeigte: Es fing scheinbar grundlos an zu schreien und zu weinen, es wollte weg, wurde aggressiv. Die Erzieherin war ratlos.

Wir haben die Situation per Video aufgezeichnet und gemeinsam mit den Eltern angeschaut. Die Mutter hat sofort gesehen, woran es lag: 'Es sind die Orangen!' Wir waren sprachlos, als sie uns erzählte, wie sie auf einem Boot geflüchtet sind: Sie waren im Lagerraum untergekommen, gleich neben Kisten voller Orangen. Der Anblick der Orangen und ihr Geruch hat das Kind zurück auf das Flüchtlingsboot versetzt und eine Panik ausgelöst. Ohne die Video-Analyse und die Zusammenarbeit mit den Eltern hätten wir nicht nachvollziehen können, was das Kind bewegt. Orangen gibt es in dieser Kita nun erst einmal nicht."

Wie wichtig ist Sprachförderung? Sprache gilt ja als bestes Mittel, um sich zu integrieren.

A. L.: "Das ist sie ja auch. Aber Deutsch lernen die Kinder meist von ganz alleine, wenn die Beziehungs-Basis gegeben ist. Man sollte nicht mit Sprachförderung anfangen und sich auf gezielte Sprachaktivitäten konzentrieren, wenn die Basis nicht gegeben ist. Wir Erwachsenen haben hier viel zu sehr unsere 'Pläne' zur zielorientierten Förderung im Kopf. Diese Pläne sind aber nicht immer deckungsgleich mit denen der Kinder. Wenn wir über eine sensible Beobachtung wahrnehmen, was das Kind uns anbietet, entstehen die Spielideen von ganz alleine.

So können wir den Kindern helfen, über Wertschätzung eine sichere Vertrauensbasis aufzubauen. Wenn wir mit dieser Haltung das Spiel des Kindes aufgreifen und begleiten, wird das Kind selbstwirksam und lernt – auch Sprache – von sich aus."

Was meinen Sie damit?

A. L.: "Wenn ich eine Beziehung zu dem Kind habe, erkenne ich, was es braucht: Wenn sich ein Kind die Welt über die Bewegung erschließt, biete ich ihm Möglichkeiten der Bewegung an. Es kann rollen, es kann klettern, werfen, fangen, durch Tunnel kriechen. Wenn ich sehe, dass es fasziniert ist von Bauklötzen, sorge ich dafür, dass es die Möglichkeit hat, viel Zeit in der Bauecke zu verbringen. Wenn es gerne malt, dann lege ich Blatt und Stifte bereit.

Bedeutend ist, die Spielprozesse des Kindes aktiv wahrzunehmen, zu begleiten und mein eigenes pädagogisches Handeln, auch das sprachliche, dem Entwicklungsstand des Kindes anzupassen. Was ich dem Kind anbiete, liegt ganz in den Händen von mir als pädagogischer Fachkraft und da sind Fachwissen, Kreativität und auch Flexibilität gefragt."

Wie kann so etwas in der Kita aussehen?

A. L.: "In einem Seminar schilderte eine Fachkraft, dass sie derzeit ein Kind mit Migrationshintergrund betreut, das die gesamte Zeit Laute von sich gibt; 'brummen' würde. Dieses Brummen sei so herausfordernd, mitunter so laut, dass es die anderen Kinder, aber auch sie selber massiv stören würde. Dieses Kind spreche nicht, brumme den ganzen Tag und wenn es interagierte, dann oft nur, indem es anderen Kindern Dinge wegnehme.

Auch hier haben wir mit Hilfe von einer Videointeraktionsanalyse herausfinden können, dass der Junge ein ganz bestimmtes Video-Spiel vor Augen hatte, die Melodie dieses Spiels ständig vor sich her brummte. Das Brummen wurde lauter, umso lauter es in der Gruppe war. Das 'Brummen' war das 'Summen' einer Spielmelodie und Mittel des Kindes zur Eigenregulation: Dem Kind war es ganz einfach zu laut; der Lärmpegel in der Kita überforderte es."

Was hat die Erzieherin dem Kind dann angeboten?

A. L.: "Die Erzieherin fragte sich: Was macht er gerne? Er baut gerne. Also hat sie den Bauteppich ins Nebenzimmer verlagert, um ihm einen geschützten, leiseren Rahmen zu bieten. Dort hat sie sich auf das Spiel des Kindes eingelassen, es konstruktiv begleitet und unterstützt. Sie hat ihm Spieltöne und Laute angeboten, zum Beispiel die eines Zuges: 'Tschtschtsch'. Dann kamen nach und nach einzelne Schlüsselwörter hinzu, die in Verbindung mit der Spielhandlung standen – die Erzieherin hat benannt, was der Junge macht – das schafft Beziehung und bietet gleichzeitig die Möglichkeit der Wortschatzerweiterung. Nach drei Wochen hat er angefangen, Vier-Wort-Sätze zu sprechen."

Das klingt toll. Wie ging es dann weiter?

A. L.: "Der nächste Schritt war dann, das Kind sozial einzubinden, ihm bei der Kontaktaufnahme zu anderen Kindern zu helfen. Dafür hat sie klare Regeln definiert: 'Das ist der Zug von diesem Kind – und das ist deiner!' Hierüber hat sie klare Informationen gegeben, die den Kindern Sicherheit und Orientierung gaben. Der Junge, der zuvor nur gebrummt hatte, forderte das Kind später noch einmal selbst auf, mit ihm zu spielen. Das war seine erste positive Interaktion.

Allgemein kann man wohl sagen: Es gibt kein einheitliches Rezept, Offenheit und Transparenz sind aber ein guter Anfang. Und dann geht man den Weg weiter – gemeinsam mit dem Kind."

Kita.NRW

Auf der Seite von Kita.NRW gibt es Hintergrundinformationen zum Thema "Alltagsintegrierte Sprachförderung" und auch eine hilfreiche Seite zum Thema "Integration von geflüchteten Kindern". U.a. finden Sie hier Informationen zum Thema Elternarbeit, aber ebenso Hintergrundinformationen zu den Bildungssystemen der Herkunftsländer und auch Informationsbroschüren in unterschiedlichen Sprachen.

Und hier finden Sie weitere nützliche Links zum Thema Integration.